Inhalt

Der Film SHOAH ist ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Film.
Das gilt besonders für seinen Gegenstand: die Vernichtung der europäischen Juden unter der nationalsozialistischen Herrschaft. Dies gilt aber auch für seinen Umfang mit einer Dauer von 9 Stunden. Gegenstand und Dauer sprengen jeden gewohnten Rahmen.

Außergewöhnlich ist, dass der Film SHOAH seine Wahrheit im Kern ausschließlich auf Zeugen des Geschehens, im engeren Sinne sogar auf Augenzeugen stützt. Auf das, was sie gesehen, selbst gehört, gespürt und gerochen haben. Es ist gleichsam das Gegenteil dessen, was in der fiktionalen Nachstellung der Geschichte im Fernsehen gegenwärtig ständig geschieht. In den Gesprächen Claude Lanzmanns mit den handelnden Personen durchleben diese noch einmal die Gefühle, die sie in der erfahrenen Realität empfanden. Teilweise geschieht das sogar erstmalig, weil sie sie vor ihren Familien und besonders ihren Kindern verborgen haben. Das ist im wahrsten Sinne ergreifend und zieht uns in seinen Bann.

Der Film SHOAH ist ein einmaliges Monumental- und Meisterwerk der Filmgeschichte.

Wichtige Personen

Die handelnden Personen lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen:

  • überlebende Opfer
  • Repräsentanten der Täter
  • Polinnen und Polen, die in der Nähe der Vernichtungsorte lebten.

Aus der Gruppe der überlebenden Opfer ragen vier besonders heraus. Durch glückliche Umstände waren sie der regelmäßigen Liquidation entgangen:

Richard GLAZAR , Basel
Er stammte aus Tschechien und hat den Aufstand im Lager Treblinka, der am 2. August 1943 von ca. 400 Häftlingen durchgeführt wurde, überlebt.

Abraham BOMBA, New York und Israel
Abraham Bomba stammte aus dem Ghetto des Städtchens Tschenstochau. Er war einer der bei der Ankunft in Treblinka ausgewählten Friseure, die direkt vor der Gaskammer den Frauen die Haare im Takt von zwei bis drei Minuten abschneiden mussten.

Rudolf VRBA, New York
Er stammte aus der Slowakei. Er besaß vermutlich den tiefsten Einblick in alle Vorgänge in Auschwitz.
Er hoffte auf eine Widerstandsbewegung. Vergeblich.

Filip MÜLLER, Israel
Er stammte aus Tschechien und überlebte fast drei Jahre das Sonderkommando
in Auschwitz.

Aus der Gruppe der Täter interviewte Claude Lanzmann:
Franz SUCHOMEL, Altötting am Inn und Walter STIER, Frankfurt
Es sprechen aber auch Inge Deutschkron („Ich trug den gelben Stern“) und der polnische Offizier Jan Karski, der in das Lager Belzec und das Warschauer Ghetto getarnt eingedrungen ist und darüber nach London und Washington berichtet hat.
Es berichten die einfachen polnischen Bauern, die neben dem Zaun von Treblinka ihr Feld bearbeiteten, die alles hörten und sahen, so die bis zu 50 Waggons, die voller Menschen ankamen und nach sechs Stunden – im Schweigen der Wälder – leer zurückfuhren. Insgesamt kommen ungefähr dreißig Personen zu Wort und schildern eindringlich ihre Erlebnisse.

Filmästhetik

Simone de Beauvoir war eine der ersten, die sich zur ästhetischen Wirkung von SHOAH äußerte: „Es ist nicht einfach, über SHOA H zu sprechen.“ Der Film verschlägt dem Zuschauer die Sprache. Er ringt um Worte, ist überwältigt:

„Der Film hat etwas Magisches an sich, und Magie lässt sich nicht erklären.“ Das Magische tritt da in Kraft, wo die Gründe der Vernunft aussetzen, dem Geschehen nicht mehr standhalten. Die im Film Sprechenden wiederholen in der Gegenwart die Situation des in der Vergangenheit Erlebten. Sie erzeugen im Film eine Situation, in der sich die Vergangenheit durch Ähnlichkeit wieder erhebt, wahrnehmbar, nachempfindbar wird. Ihr Gesicht, ihre Sprache, ihr Körper, ihr Schweigen und ihr Stammeln lassen die Vergangenheit wieder erstehen, der Zuschauer gerät durch seine Nachempfindung in ihren Sog. Dazu de Beauvoir:

„Nach dem Krieg haben wir zahllose Zeugenaussagen über die Gettos und die Vernichtungslager gelesen; wir waren erschüttert. Doch wenn wir heute den außergewöhnlichen Film von Claude Lanzmann sehen, wird uns klar, dass wir nichts wussten. Trotz aller Kenntnisse war uns das grauenhafte Geschehen fremd geblieben. Jetzt erfahren wir es zum ersten Mal an uns selbst – in unseren Köpfen, in unseren Herzen,
am eigenen Leib.“

Entstehung des Films

Zwischen 1973 nach der Fertigstellung des Films POURQUOI ISRAEL und 1979, dem Beginn der Dreharbeiten zu SHOAH, bereitete sich Claude Lanzmann auf die Gestaltung des Films SHOAH vor. Die ersten zwei bis drei Jahre hatte er die vorhandene historische und biografische Literatur gelesen, hatte mit Überlebenden stundenlang gesprochen und damals schon gemerkt, dass er, um richtig fragen zu können, noch nicht genug wusste. Auch erkannte er, dass es ein Set des Ablaufs gab, der sich aus Verhaftung, Razzien, Deportation, Enge und Gestank bis zur Selektion wiederholte.

Sein Film könnte das zwar nicht auslassen, aber in all den Berichten fehlte das Wesentliche: „… die Gaskammer, der Tod in der Gaskammer, aus denen nie jemand zurückgekommen war, um darüber zu berichten. An dem Tag, als ich das begriff, wusste ich, dass das Thema des Films der Tod sein würde, der Tod und nicht das Überleben, ein radikaler Widerspruch, denn er zeigte die Unmöglichkeit des Unternehmens, in das ich mich stürzte, Tote können nicht über Tote sprechen.“ (Erinnerungen, S. 539)

Der Film wurde im Jahre 1985 fertiggestellt und im gleichen Jahr in Paris uraufgeführt.

Zitate

„SHOAH ist kein Erinnerungsfilm. Erinnerungen sind Sache der Vergangenheit. Es ist ein Film des Erinnerns. Durch seine bohrenden Fragen setzt Claude Lanzmann das Gedächtnis der jüdischen Überlebenden in Gang und bohrt sich in den Kopf der Zuschauer.“
Rachel Ertel

„Eine erschütternde Dokumentation, weil sie die unmenschliche Vernichtungsmaschinerie im konkreten Detail erfassbar macht.“
Willy Brandt

„Ich halte SHOAH für die ausnahmslos beste Dokumentation zeitgenössischer Geschichte und bei weitem für den besten Film, den ich je über den Holocaust gesehen habe.“
Marcel Ophüls

„SHOAH lässt den Zuschauer erstarren, er überwältigt ihn, und schließlich – mit unendlicher Zartheit und Behutsamkeit, hinterlässt er bei ihm eine Verletzung, eine Narbe.“
Jim Hobermann